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Tuesday, December 27, 2016

Medienphrasen 2016

Alle Jahre wieder: Die abgedroschensten Dauerphrasen und schiefsten Bilder in den Medien.

  • biodeutsch
  • Bestsellerautor
  • Alpha-Journalist
  • der ein oder andere
  • Wahldebakel
  • Kostenexplosion
  • unschuldige Frauen und Kinder
  • abstrafen
  • befüllen
  • Angriff auf die Lachmuskeln
  • unter den Teppich kehren
  • Der Wettergott zeigte sich gnädig
  • Fachexperten
  • konkrete Einzelfälle
  • am Ende des Tages
  • Hausaufgaben (nicht) gemacht haben
  • Urnengang
  • Wahlschlappe
  • sektorielle Bereiche
  • Da bin ich ganz bei Ihnen
  • zeitnah
  • nachbessern
  • kein Einzelfall
  • steht unter Beschuss
  • mit Hochdruck
  • Nerven liegen blank
  • die Eliten
  • die Kuh vom Eis holen
  • erdrutschartiger Sieg
  • knallharte Dokumentation
  • freilich
  • selbsternannt
  • Thank you for being a valued customer of ...
  • unsäglich
  • ein Stück weit
  • Wahl zwischen Pest und Cholera
  • Rock-Röhre
  • Star-Architekt
  • Blutbad
  • was das anbetrifft
  • lichtdurchflutet
  • wertig
  • ungekrönter König
  • fröhliche Urständ feiern
  • die Märkte
  • Weltraumbahnhof
  • der Fisch stinkt vom Kopf
  • Blaupause
  • einpreisen
  • Nebelkerze
  • wenn Sie mögen


Die nächsten Medienphrasen lesen Sie Ende 2017 wieder hier. Das können Sie schon mal einpreisen -- wenn Sie mögen.

Tuesday, November 29, 2016

Soundbreaking



Der Untertitel verspricht viel. Wenn man die Liste der mitwirkenden Stars, Sterne und Sternchen sieht, verstärkt sich der Eindruck noch. Und spätestens der Trailer macht neugierig. Soundbreaking besteht aus acht jeweils 55-minütigen Folgen:
  1. The Art of Recording. Hier geht es um die alte Frage: Was macht eigentlich ein Musikproduzent?
  2. Painting with Sound. Die Möglichkeiten früherer und heutiger Tonstudios, bis hin zu dem Punkt, da das Studio selbst zum Instrument wird.
  3. The Human Instrument. Unerschöpflich: Die Gesangsstimme.
  4. Going Electric. Die Entwicklung der Musikelektronik, von der elektrischen Gitarre über Effektgeräte bis zum modernen Synthesizer. Die Folge erweckt den Eindruck, die wahren Pioniere seien Beaver & Krause, The Who, Tonto's Expanding Head Band und Stevie Wonder gewesen. Namen wie Klaus Schulze, Kraftwerk, Tangerine Dream werden nicht mal im Vorbeigehen erwähnt; wenigstens darf Giorgio Moroder kurz ein paar Worte über "Love To Love You Baby" verlieren, auch Hans Zimmer taucht kurz auf. In einer Folge mit solcher Themenstellung Benny Goodman oder Muddy Waters unterzubringen ist ein Kunststück für sich.
  5. Four on the Floor. Hier geht es um den Beat, ganz klar. Sehr viel James Brown, Little Richard, Madonna und Bee Gees. Und nochmal Giorgio Moroder mit Donna Summer, bis die Folge dann  schließlich bei EDM ankommt, vertreten hier durch Moby.
  6. The World is Yours. Das Thema ist Sampling, als Technologie wie als Stil. Hier allerdings wird Sampling in erster Linie als die Geburtsstunde des Hip-Hop gesehen und so gut wie ausschließlich durch diese Brille gesehen. Kraftwerk wird kurz erwähnt ("Trans Europa Express"), aber lediglich als Trigger für Afrika Bambaataas "Planet Rock" dargestellt. (Dass dessen Stück nicht mal gesampelt, sondern eine simple Coverversion ist, fällt den Autoren nicht auf.)
  7. Sound and Vision. Der Start von MTV und die Entwicklung des Musikvideos.
  8. I Am My Music. Hier geht es um alte und neue Hörgewohnheiten und Formen der Musikpräsentation, von der Single bis zum Langformat-Konzeptalbum (dessen Erfindung hier seltsamerweise Frank Sinatra zugeschrieben wird (In The Wee Small Hours von 1955, einer seiner größten Flops und eines der wenigen Sinatra-Alben, die ich mag)).
Soundbreaking ist eine Produktion des (weitgehend spendenfinanzierten) Public Broadcasting System. Das heißt: Die Filme haben das typische "Flavour", das aus irgendwelchen Gründen allen PBS-Dokumentationen eigen ist. Weil man dort immer davon ausgeht, dass das zahlende Publikum ausschließlich an den USA interessiert ist, sind alle Folgen fast vollständig US-zentriert -- in diesem Fall mit ein paar kleinen Abstechern nach England, die vor allem wohl George Martin zu verdanken sind, der Co-Produzent der Serie war.

Die Folgen halten sich konsequent an die derzeitige Dokumentarfilm-Mode, auf jeden erklärenden Off-Kommentar zu verzichten und ausschließlich sehr dynamisch geschnittene (und bebilderte) O-Töne aneinanderzuhängen und mit Musik zu unterlegen. Das kann man so machen, es setzt aber voraus, dass man vorher genauestens überlegt, was der Film rüberbringen soll, um dann entsprechend erklärende Schnipsel als O-Ton zusammenzutragen. Hier jedoch sind die Filmemacher offenbar mit der Idee losgezogen, erst einmal so viele Statements wie möglich einzufangen, um dann auszuwählen, welche verwendet werden können. Die Folgen beginnen in der Regel bei ihrem jeweiligen Thema, fasern aber alsbald in ein nichtendenwollendes und sich vom ursprünglichen Thema immer weiter entfernendes Geschwalle aus. Tatsächlich kompetente Gesprächspartner sind ohnehin eher selten, und selbst deren Beiträge sind meist so gekappt, dass kaum Substanzielles übrigbleibt -- wohl, weil man fürchtet, mehr als zwei zusammenhängende Sätze würden das Tempo rausnehmen oder die Zuschauer intellektuell überfordern. Wirklichen Hintergrund gibt es folglich so gut wie gar nicht. Statt dessen erleben wir in jeder Folge mindestens dreimal das Statement, Künstler X, Y oder Z habe die Welt der Musik "für immer" verändert -- wodurch aber, das bleibt stets das Geheimnis der Filmemacher.

Das alles schließt nicht aus, dass jede Folge ein paar interessante Aussagen und Musikschnipsel hat, die das Zuschauen letztlich doch wert sind. Irgendwelche fundamentalen Neuigkeiten hat mir die Serie aber nicht vermittelt.

Soundbreaking gibt es im US-Netflix, vielleicht ja auch bald in Deutschland. Ansonsten kann man die DVDs vielleicht bald gebraucht kaufen oder sie in der Bibliothek ausleihen. Viel Geld ausgeben jedenfalls würde ich dafür nicht.


(Sorry, no English translation this time.)

Tuesday, November 8, 2016

Maskentänzer im Radio / Mask Dancers on Air


Friday, November 18, 2016, 20:10-21:00 MEZ (2:10-3:00 PM Eastern): 

Maskentänzer -- Das Künstlerpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt. 
A radio documentary by Yours truly (in German language).

Deutschlandfunk. Audio stream, podcast and script available HERE.

*


Freitag, 18. November 2016, 20:10-21:00 Uhr MEZ (2:10-3:00 PM EST): 

Maskentänzer -- Das Künstlerpaar Lavinia Schulz und Walter Holdt. 
Ein Radiofeature von mir. 

Deutschlandfunk. Audiostream, Podcast und Manuskript HIER.




Sunday, October 30, 2016

Election Sale

Everything is prepared.




May the election begin.

Wednesday, October 19, 2016

Bob Dylan und der Nobelpreis

(Dies ist ein Beitrag, den ich in einem Thread in einem CCR-Forum gepostet habe. Ich kopiere ihn einfach mal hier hinein. Sorry, German only.)


***  hat geschrieben:Wer vertieftes Interesse hat, der lese diesen Artikel aus der FAZ: Falscher Preis für den Richtigen.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/literaturnobelpreis-2016-fuer-bob-dylan-ist-falsche-entscheidung-14482992.html

Ich schließe mich dem Autor in weiten Teilen an.

Worum geht hier eigentlich dieses schlechtgelaunte Gemaule? Geht es darum, dass das Nobelpreiskomitee dieses Jahr mal frische Luft reingelassen hat und den Literaturnobelpreis nicht, wie sonst üblich, einem Autor zugesprochen hat, den man erst mal googeln muss? Oder darum, dass er nicht John Fogerty zugesprochen wurde? Oder darum, dass überhaupt Preise verliehen werden?

Für jemanden wie Tobias Rüther, der immerhin mal ein sehr ordentliches Buch über Bowies Zeit in Berlin geschrieben hat, ist das ein erstaunlich kleingeistiger Kommentar. Der müsste es eigentlich besser wissen.

Nein, man muss Dylan nicht mögen. Ich höre ihn mir nur selten an, und ich würde auch keinem widersprechen, der sagt, dass Dylan nicht der beste Interpret seiner Songs ist. Trotzdem kann man doch wohl mal anerkennen, dass sehr viele seiner Texte allen literarischen Kriterien mühelos standhalten, dass er hervorragende Songs geschrieben hat (oder glaubt einer, musikalische Hochkaräter wie The Band oder ein Produzent wie Daniel Lanois würden sich sonst mit ihm abgeben?). Es geht hier auch nicht mal eben um ein paar Songtexte, sondern um ein Werk, das - ich glaube - mittlerweile 37 Alben und etliche Bücher umfasst, das ständig live präsentiert und laufend variiert und neu erfunden wird. Kurz, dass Dylan eine Ausnahmeerscheinung ist, der mit seinem Werk seit 1962 Maßstäbe setzt und mindestens zwei Generationen von Musikern, Hörern und Autoren maßgeblich beeinflusst hat.

Wie dann der FAZ-Kritiker Rüther in seinem Kommentar darauf verfällt, Dylan als simplen Popmusiker sehen zu wollen und ihn allen Ernstes auf eine Ebene mit Beyonce oder Teenagerschlagern wie "Da-Doo-Ron-Ron" stellt, das verschlägt mir den Atem.

Das ist wirklich das ganze Elend der deutschen Kritik, die einfach aus ihrem elitären Schubladendenken nicht rauskommt. Auch in den USA sind keineswegs alle von der Entscheidung für Dylan begeistert, aber so rückwärtsgewandt argumentiert hier kaum jemand. Die Literatur ist längst weiter und hat längst auch über das klassische Buch hinaus andere Medien und Verbreitungswege entdeckt, und daran hat nicht zuletzt auch Bob Dylan seinen Anteil.


Wäre noch die Frage, warum sich Dylan nicht zu dem Preis äußert. Ich weiß es natürlich auch nicht, aber ich habe ja vor ein paar tagen geschrieben, dass ich glaube, das Nobelpreiskomitee wollte mit der Verleihung an Dylan auch einen Kommentar zur gegenwärtigen Lage abgeben. Ich könnte mir vorstellen, dass Dylan selbst das auch so sieht, und da er sich noch nie gerne vor irgendwessen Karren hat spannen lassen, schweigt er halt. Wenn irgendjemand sich das erlauben kann, dann er.

Monday, October 3, 2016

Monday, August 22, 2016

Today in Berlin



This plate is attached now to the house at Schöneberger Hauptstraße 155 where he used to live.

Tuesday, July 26, 2016

Schilleroper










Not a water tank, not a gasometer. This is the SCHILLEROPER in Hamburg-Altona — a construction made from steel and corrugated metal, erected in 1892 as a residential circus building, the only circus with a ring that could be flooded for a water ballet.

In the 1920s, it became an opera house, a theater and varieté, Hans Albers had his first stage appearences here. During the Nazi era the building was used as a meeting place by the local SS as well as by communists, which led to brawls and shootings sometimes, and then, after the war … nothing really happened anymore.

Nobody had an idea what to do with this complex of buildings. In the 1970s, the buildings around the rotunda, the former foyer and artist’s dressing rooms were used as dwelling for Italian "guest workers", as they were called then, later it became a restaurant which had to be closed after a while because of illegal gambling. It became a music club, and when that failed …

This is how the building looks today. It cannot be torn down because the steel construction is under protection, but the whole complex is so down and out … I’m sure today’s owners (a community of heirs) is simply waiting till the whole building breaks down by itself.

This has always been the way the city of Hamburg uses to deal with its cultural treasures. We call this "Pfeffersackmentalität".

Sunday, June 26, 2016

The Film Music of Howard Shore





The Film Music of Howard Shore

Pittsburgh Symphony Orchestra
Ludwig Wicki, conductor

Howard Shore, special guest
John Burlingame, interviewer

Lydia Kavina, theremin
Maksim Shcherbutyuk, boy soprano
Terry Steele, alto saxophone
Eva Rainforth, mezzo soprano
Colleen Poe, piper
Palmer Shonk, piper

Pittsburgh, Heinz Hall
June 25, 2016





Fünf Jahre lang, von 1975 bis 1980, war der kanadische Komponist Howard Shore der "musical director" der wöchentlichen US-Fernsehshow Saturday Night Live, zu deren Schöpfern er auch gehörte. Um dieselbe Zeit herum begann er auch mit dem Regisseur David Cronenberg zusammenzuarbeiten und hat seitdem die Musiken zu 15 Filmen geschrieben, darunter Crash, Naked Lunch, Ed Wood, Se7en, The Silence of the Lambs und Mrs. Doubtfire. Auch eine Oper, The Fly, hat Shore komponiert. Seine bekanntesten Musiken aber sind ganz sicher jene für die Lord of the Rings- und The Hobbit-Trilogien.

Die gab es natürlich auch alle in Ausschnitten im gestrigen "Pops"-Konzert des Pittsburgh Symphony Orchestra zu hören. Die "Pops"-Konzerte, bis zu dessen Tod im Jahr 2012 von Marvin Hamlisch geleitet, erkennt man vor allem daran, dass die Musiker Weiß statt Schwarz tragen, das Publikum auch während der Stücke durch die Gänge rennt, nach den Stücken nicht nur geklatscht, sondern auch gejohlt wird (denn wegen des Smartphones in der Hand ist Klatschen in vielen Fällen nicht mehr möglich) und die altehrwürdige Heinz Hall (benannt nach dem Ketchupfabrikanten) mit einer PA und buntem Licht aufgepeppt wird. Auch Legolas-Frisuren und Elbenohren waren vereinzelt zu sehen. Das hat immerhin noch Charme angesichts des Programms.





Offensichtlich, das wurde mir schnell deutlich, eignet sich nicht jede Filmmusik automatisch zur Konzertmusik. Auch die im ersten Teil des Abends praktizierte Methode, die Musik aus den Hobbit-Filmen zu einer vierteiligen Suite zusammenzufassen, ist nicht ideal, zumal mir die Dramaturgie innerhalb der Teile nicht immer stimmig zu sein schien und die Unterbrechungen mir auch etwas beliebig gesetzt vorkamen. Aber man muss wohl in Rechnung stellen, dass heutige Filme wie diese mit einem fast permanenten Soundteppich unterlegt sind, während Filme noch in den 70er Jahren kaum mehr als insgesamt 15 oder 20 Minuten Musik enthielten. Da fallen Suiten leicht mal auseinander.

Zudem fiel mir auf, dass Shore keine Handschrift besitzt, die man sofort erkennen würde. Filmmusiken von Künstlern wie Nino Rota, Ennio Morricone, John Williams, John Barry oder Hans Zimmer erkennt man nach wenigen Takten am Stil oder der Melodieführung. Nicht so bei Shore. Handwerklich ist er fit, Melodien sind aber eindeutig nicht seine Stärke. Dafür allerdings bieten seine Kompositionen einem Orchester die Möglichkeit, ein paar Dinge aufzufahren, die im sinfonischen Programm sonst eher selten vorkommen -- etwa Bongotrommeln, Metallklänge, Singende Säge, Donnerbleche, Regenmaschinen.

Unter der Leitung des Dirigenten Ludwig Wicki, der bewegungstechnisch permanenten Alarmzustand signalisierte, selbst wenn die Musik völlig ruhig dahinfloss, traten außerdem eine Reihe von Solisten auf -- eine Mezzosopranistin, die leider latent gewürgt klang, ein exzellenter Altsaxophonist, zwei Dudelsackpfeifer, ein Knabensopran, der spätestens in einem halben Jahr aus dieser Rolle herausgewachsen sein dürfte. Und -- für mich der Hauptgrund des Konzertbesuches -- Lydia Kavina am Theremin.





Wer mal irgendjemanden (wie etwa Jean Michel Jarre oder sich für postmodern haltende Popgruppen) live mit diesem Ding herumdilettieren gesehen (und gehört!) hat, der kann nur staunen, wie unglaublich präzise dieses Biest gespielt werden kann -- wenn man es denn kann. Und Lydia Kavina kann. Ihr Solo zur Ed-Wood-Musik gehörte zu den Höhepunkten des Abends.

Leider überschritten alle Solisten des Abends kaum mal die Dreiminutenmarke, bevor sie wieder verschwanden. Das war, seien wir ehrlich, in den meisten Fällen kein großer Verlust, im Falle Kavina aber sehr wohl. Da hätte man gern mehr gehört.

Bleibt noch anzumerken, dass Howard Shore selbst anwesend war und, mit einem Interviewer auf der Bühne sitzend, kurze Einführungen zu den jeweils gespielten Stücken gab. Auch wenn die Gespräche einen gescripteten Eindruck machten: Das immerhin war interessant.

(Dieser Beitrag erschien zuerst in manafonistas.de)

Sunday, May 29, 2016

Doldinger




(Scroll down for English version)

Nun ist Klaus Doldinger 80 geworden. Und er ist so vital, wie er auf dem Coverfoto wirkt.

Statt eines simplen „Best ofs“ gibt es zum Geburtstag in limitierter Auflage einen Rückblick auf etliche Doldinger- bzw. Passport-Klassiker, aber in neuen Versionen. Dankenswerterweise hat man auf „Das Boot“ oder das „Tatort“-Motiv verzichtet; die einzige Filmreminiszenz ist „Auryn“ aus der „Unendlichen Geschichte“, aber auch sie in neuer Einspielung (mit Dominic Miller). Auf Max Mutzkes Gesang in „Inner City Blues“ hätte ich, ehrlich gesagt, verzichten können, und Udo Lindenberg, der in Passports Gründungszeiten deren Drummer war, trommelt diesmal nicht, sondern hat mit „Der Greis ist heiß“ einen Song beigesteuert, der wohl ein Geburtstagsständchen sein soll, mir auf diesem Album aber eher entbehrlich vorkommt. Aber man hat das wohl geahnt und den Song deshalb ans Ende gesetzt.

Das ist aber auch schon alles, was ich an der Platte auszusetzen habe, und das ist natürlich Geschmackssache. Alles andere an der Scheibe stimmt, ist rund und macht Spaß. Die Platte hat eine Grundentspanntheit, die vielleicht eine Frage des Alters ist. Der Mann muss wirklich nichts mehr beweisen, seine Kompositionen haben nicht die leisteste Spur von Staub angesetzt, und das weiß er natürlich. Besonders deutlich wird das, wenn man die Stücke mal im direkten Vergleich mit den Originalen hört.

Ich freue mich schon jetzt auf Doldingers nächste.

Das einzige, was ich mich schon immer gefragt habe: Weshalb sind die beiden wunderbaren „Jubilee“-Konzerte von 1974 und 1975 nie in voller Länge veröffentlicht worden? Aber vielleicht wird das ja das Geschenk zum Neunzigsten.




Now Klaus Doldinger turned 80. And he seems to be as vital as he looks on the cover photo.

Instead of a simple "Best of" for his birthday we get (in limited edition) a retrospective on several classic Doldinger and Passport tunes, but in new versions. Thankfully the record company passed on "Das Boot" or the "Tatort" theme; the only film reminiscence is "Auryn" from "The Neverending Story", but also this one is a new recording (with Dominic Miller). To be honest, I could have done without Max Mutzke's singing in "Inner City Blues", and the song Udo Lindenberg, Passport's first drummer, provides to the album ("Der Greis ist heiß") probably has to be seen as a "happy birthday" song. Which is fine, but a bit misplaced here. Probably the record company sensed that and put the song at the end. 

But this is all I have to complain about this record, and of course this is a matter of taste. All other stuff is great, enjoyable and wonderfully relaxed. Maybe this is a question of age. This man doesn't need to prove anything anymore, his compositions aren't outdated in the slightest, and of course he knows it. Especially this shows in direct comparison to the originals.

I'm looking forward to Doldinger's next.

There's only one thing I always wanted to know: What is the reason that his wonderful "Jubilee" concerts from 1974 and 1975 have never been released in full length? But maybe this will be the gift for his ninetieth birthday.

Tuesday, May 10, 2016

Janis: Little Girl Blue






Ami Bergs neuer Dokumentarfilm über Janis Joplin, Janis: Little Girl Blue, hatte vor zwei Tagen seine amerikanische Fernsehpremiere und steht für die nächsten paar Wochen online bei PBS (leider vermutlich nicht ausserhalb der USA).

Um es vorwegzunehmen: Viel Neues bietet der Film nicht. Aber damit war wohl auch kaum zu rechnen. Es gibt nur wenige US-Stars, deren Werk und Nachlass so systematisch in kleinen Portionen in Büchern, Booklets und Zeitschriftenartikeln, auf immer wieder neuen CD-Kollektionen und neuerdings auch auf der Musicalbühne verhackstückt worden ist wie das Janis Joplins. Und noch immer hält die familieneigene Stiftung den Daumen auf allem, was von Interesse sein könnte. Wer die Janis-Biografien von Alice Echols, Myra Friedman, Ingeborg Schober und Janis‘ Schwester Laura Joplin gelesen hat, kennt die meisten der verfügbaren Informationen und Quellen, weiß aber auch, wie unklar und weitläufig interpretierbar sie sind. Besonders die Biografien Echols und Friedmans tragen allzu deutlich die Spuren des Versuchs, Janis für die politischen oder weltanschaulichen Vorlieben der Autorinnen zu vereinnahmen. Janis, behaupte ich, würde sich das energisch verbeten haben.

Diesen Fehler immerhin macht der Film nicht. Er verlässt nur kaum je das amerikanische Fernsehlevel, er bleibt also stets dicht an der Oberfläche. Dabei hätte er mit einer Laufdauer von 105 Minuten Zeit genug gehabt, auch mal weiter in die Tiefe zu gehen.

Neben viel Archivmaterial, das man längst kennt (Studio, Woodstock, Monterey, Festival Express), gibt es auch relativ neue Interviewschnipsel mit ihren Bandmates Peter Albin, Dave Getz und dem (inzwischen verstorbenen) Sam Andrew, mit Bob Weir von Grateful Dead, Country Joe McDonald, Kris Kristofferson, Fernsehmann Dick Cavett, dem damaligen CBS-Boss Clive Davis sowie dem Filmemacher DA Pennebaker. Auch Freunde, Liebhaber und Verwandte tauchen auf; manchmal haben sie sogar etwas Interessantes zu sagen. Viel hat Janis auch von ihrem Produzenten Paul Rothchild gelernt, doch der war leider nicht mehr zu interviewen.

Meist wird Janis getreu ihrem Klischeebild als emotionsgesteuertes Powerpaket dargestellt, das ständig von ihrem eigenen Überschwang davongetragen wurde. Dass ihr Gesang in Wahrheit sehr genau ausgetüftelt und bis in kleinste Verzweigungen ihrer stimmlichen Möglichkeiten erforscht, ausprobiert und einstudiert war – kein Wort davon in diesem Film. Dass Big Brother & The Holding Company eine passable Band war, soll nicht bezweifelt werden. Für Janis war sie ein guter Start. Dennoch musste Janis die Band verlassen, weil sie auf die Dauer dort mit ihrem Ausnahmetalent verhungert wäre. Meiner Ansicht nach eine konsequente und richtige Entscheidung. Der Film jedoch stellt sie als Fehlentscheidung dar, weil Janis mit der Band auch so etwas wie ihre Familie und damit ihren emotionalen Rückhalt aufgab. Man kann das so sehen, und sicher ist das ein Teil des emotionalen Chaos, das Janis wohl eigen war.

Weshalb dann die von Janis selbst zusammengestellte Kozmic Blues Band nicht funktionierte, macht der Film immerhin ansatzweise klar: Weil die Band aus Musikprofis bestand, die alles spielen konnten, was man von ihnen wollte, denen man aber genau sagen musste, was sie spielen sollten. Diese Führungsrolle war nicht Janis‘ Ding. Dass noch dazu die damals soultypischen Bläsersätze ihre Stimme erdrückten, muss sie selbst gemerkt haben. Wie Janis dann an die überwiegend kanadischen Musiker ihrer Full Tilt Boogie Band kam (ihrer zweifellos besten), wird leider gar nicht erklärt. Auch ihr Spiel mit der Kunstfigur „Pearl“, die sie sich – vermutlich für die Bühne – ausgedacht hatte, bleibt unerwähnt und ungeklärt. (Nein, „Pearl“ war nicht, wie immer wieder behauptet wird, Janis‘ Spitzname.)

In einigen Interviewausschnitten mit Janis kommt bei aller Oberflächlichkeit des Films trotzdem durch, dass sie eine hochintelligente Person war. Mit ihr konnte man über Musik und Kunst ebenso fundiert wie über politische oder soziologische Fragen diskutieren, sie hatte die amerikanischen Systemtheoretiker ebenso gelesen, wie sie Adorno oder Sartre an Bord hatte. Die Präzision und Überlegtheit, mit der sie Fragen beantwortet, ist oftmals bemerkenswert. Sie kannte Odetta und Billie Holiday bis ins Detail, ebenso aber auch Strawinsky oder Ligeti. Zeitlebens muss diese Frau darunter gelitten haben, dass das keiner von ihr hören wollte, ja, mehr noch: dass keiner ihr diese Kenntnisse überhaupt zutraute. Der Film geht auf diesen Aspekt kaum ein. Deswegen bleibt es letztlich auch rätselhaft, weshalb sie weder vom Alkohol noch vom Heroin dauerhaft loskam – der Film erklärt den Drogenkonsum durchweg mit jugendlichem Rebellentum, der emotionalen Leere nach den Auftritten und der Einsamkeit in den Hotelzimmern. Sicherlich nicht verkehrt, aber mir ein bisschen zu dünn als Erklärung.


Alles in allem ist Janis: Little Girl Blue kein schlechter Portraitfilm über eine sehr vielschichtige Persönlichkeit. Wer wenig über Janis Joplin weiß, erfährt hier einiges zum Einstieg. Aber man hätte mehr daraus machen können.


(Diese Besprechung wurde zuerst veröffentlicht auf manafonistas.de)
No English translation this time - sorry!

Sunday, April 17, 2016

So, so ...

Dieter Hallervorden ruft also alle Kabarettisten auf, jetzt Stellung zu beziehen. Auch wenn ich kein Kabarettist bin: Das können Sie haben.

Allmählich wird die Sache nämlich lächerlich.

  1. Jan Böhmermann wird nicht ins Gefängnis gehen (jede Wette), und auch sonst wird niemand wegen eines Satirebeitrages geköpft oder mit Publikationsverbot belegt werden. Böhmermann wird — wenn überhaupt ein Verfahren eröffnet wird — im ungünstigsten Fall mit einer überschaubaren Geldstrafe davonkommen. Danach kann er seinen Job weitermachen. So what.
  2. Erdogans Klage gründet auf einem Paragrafen, der derzeit noch geltendes Recht ist. Die Kanzlerin kann das nicht ignorieren. Sie kann allerdings, und das hat sie getan, die Streichung des betreffenden Paragrafen noch für diese Legislaturperiode in Aussicht stellen. Mehr kann man im Augenblick wohl kaum verlangen.
  3. Die Leute scheinen mehrheitlich nicht zu verstehen (oder wollen es nicht verstehen), dass die Kanzlerin gerade dadurch, dass sie die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft erlaubt, kein Urteil abgibt und auch keine Bestrafung Böhmermanns fordert oder nahelegt. Hätte sie die Genehmigung nicht erteilt, dann wäre das ein aktiver Eingriff der Regierung in die Arbeit der Justiz gewesen — und das sollten wir uns lieber nicht wünschen.
  4. Comedians oder wer sich in Deutschland sonst noch für einen Satiriker hält, scheinen seit einigen Jahren zu erwarten, dass sie unter dem Deckmäntelchen „Satire“ nach freiem Belieben herumpöbeln und auf unterstem Niveau sinnfrei beleidigen dürfen (und sich dabei oft noch auf das Zitat „Was darf die Satire? Alles!“ aus einem Tucholsky-Artikel berufen, den sie entweder nicht verstanden oder gar nicht erst gelesen haben). Nun hat sich halt mal jemand dagegen gewehrt, und prompt geht ein großes Gegreine los. Aber gibt es da nicht auch so etwas wie die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln? Böhmermann hat sich seine Suppe selbst angerührt — OK, das soll er von mir aus dürfen, aber er muss dann auch bereit sein, die möglichen Konsequenzen zu tragen.
  5. Leute wie Dieter Hildebrandt oder Lore Lorentz wären in eine solche Situation nie hineingeraten. Die hatten ihren Tucholsky nämlich gelesen — und verstanden.

Alles klar, Herr Hallervorden? Eigentlich sollte man solche Dinge einem bekennenden Liberalen nicht erklären müssen, aber im Augenblick scheinen in Deutschland ja mal wieder alle verrückt zu sein.

Saturday, March 5, 2016

Daevid Allen: Elevenses





(Scroll down for English version)

Wieder so eine Abschiedsplatte. Aber Daevid Allen macht es einem leichter als David Bowie. Klar, es ist seine letzte Soloplatte, und er muss gewusst haben, dass es seine letzte sein würde. Stimmlich vielleicht ein wenig dünner, ein bisschen kratziger, aber trotzdem ist diese Platte ein Energiestoß geworden. Gleichzeitig bildet sie einen reizvollen Rückgriff auf alte Psychedelic-Zeiten, ohne dabei überholt zu wirken.

Daevid Allen, Soft Machine-Gründer, Gong-Head und Oberster Pot Head Pixie, wusste, dass er keinen Kompromiss mehr machen musste, und er macht keinen. (Hat er eigentlich ohnehin nie, aber hier noch weniger, wenn das sprachlich möglich ist.) Man hat das Gefühl: Hier kommt jemand nach Hause.




Das „Weird Quartet“ ist eigentlich die Band Spirits Burning aus San Francisco, auf deren Album Reflections In A Radio Shower Daevid mal als Gast mitgewirkt hat. Aus dieser Begegnung resultierte das Gefühl, gut miteinander zu können, aber bis es dann zu einer gemeinsamen Platte kam, mussten 15 Jahre ins Land gehen. Daevid spielt Gitarre, Glissando-Gitarre und singt, Michael Clare spielt Bass, Paul Sears und Trey Sabetelli spielen Drums und Don Falcone drückt die Tasten, letzterer ist auch Produzent des Albums.

Gern hätte ich noch den dritten Teil von Daevids Autobiographie gelesen, aber was soll man machen: Freund Hein war schneller. Wir sprechen uns, irgendwann. Bis dahin bleiben wir in drahtloser Verbindung.




(Dieser Beitrag erschien zuerst in manafonistas.de)



Another good-bye record. But Daevid Allen somehow makes it a little bit easier to say good bye to him than David Bowie did. Of course, this is his last solo recording, and he must have known it would be his last one. His voice is a bit thinner, a bit more scratchy, but nevertheless this record turns out to be a push of energy. At the same time it's a charming fallback to old psychedelic times, but without sounding outdated.

Daevid Allen, founder of Soft Machine, head of Gong and Pot Head Pixie in chief, knew he wouldn't have to compromise anymore, and he doesn't make a compromise. (Actually, he rarely made compromises anyways, but even more he doesn't do it here -- if this is linguistically possible). It gives you the feeling: Somebody is coming home here.

The Weird Quartet, in fact, is the band Spirits Burning from San Francisco. Daevid once contributed as a guest to their album Reflections In A Radio Shower. That worked out quite well, but however, it took 15 years till it was possible to lay down a joint record. Daevid plays guitar, glissando guitar and sings, Michael Clare plays bass, Paul Sears and Trey Sabetelli play drums, Don Falcone presses the keys and is also producer of this album.

Gladly I would read part 3 of Daevid's autobiography, but it doesn't help: The Grim Reaper was faster. We'll have a nice little chat, one day. Until then let's keep the wireless connection.


Friday, January 29, 2016

Paul Kantner 1941-2016


(Photo: Wikipedia)


Ich glaube, es war Ende 1996. Eine meiner ersten Erfahrungen mit dem nagelneuen quietschvioletten iMac im für mich damals noch relativ neuen Internet. Ich war auf einer Mailingliste (erinnert noch jemand, was das war?) namens "2400 Fulton Street" von Fans der Gruppe Jefferson Airplane bzw. Jefferson Starship, die ich hoch schätzte und noch immer schätze. Auf dieser Mailingliste war auch Paul Kantner, Gitarrist, Kopf und Herz der Band, die er bis zuletzt am Leben erhielt.

Durch irgendeinen Beitrag von mir kam er darauf, dass ich aus Deutschland stamme, und schickte mir eine E-Mail mit der Frage, ob ich einen Text ins Deutsche übersetzen könne, und zwar so, dass er singbar wäre. Es war dieser -- ausgerechnet, denn nach meinem Dafürhalten war und ist das ein ziemlich lausiger Text für einen schwachen Song aus der wohl ödesten Phase des Sternenschiffs (als sie versuchten, wie Foreigner zu klingen).

Anyway, ich hab’s gemacht. Ich war vom Ergebnis nicht begeistert, aber singbar war der Text, und Paul war’s anscheinend zufrieden. Vielleicht hat er ihn auch sowieso nicht verstanden. Und mir wäre nicht bekannt, dass ihn die Band je gesungen hätte.

Gestern ist Paul Kantner mit 74 Jahren verstorben.

Dieses Jahr scheint irgendwie verhext zu sein.


*

I think it was at the end of 1996. The internet was relatively new to me, and this was one of my first experiences with my brand-spanking new squeeking-lilac iMac. I was subscribed to a mailing list (does somebody still remember what that was?) named "2400 Fulton Street", run by fans of the bands Jefferson Airplane and Jefferson Starship, which I highly appreciated then and still appreciate today. And on this mailing list used to be also Paul Kantner, guitarist, brain and heart of the bands.

Apparently I posted something that told him that I'm from Germany, and so he sent an e-mail to me, asking whether I could translate one of his lyrics into German -- if possible in a way that one could sing it. It was this one, of all things: After my fancy these were weak lyrics for a mediocre song from the probably most unendurable phase of the Starships (when they tried to sound like Foreigner).

However, I did it. I wasn't very happy with the result, but at least it was singable, and Paul was friendly enough not to complain. It might be possible that he simply didn't understand it. And I've never heard that the band actually sung it.

Yesterday, Paul Kantner passed away at the age of 74.

Somehow this year seems to be jinxed.

Friday, January 22, 2016

One last Wish



(Pittsburgh Post-Gazette, January 21, 2016)

Sunday, January 17, 2016

Pittsburgh Symphony Orchestra


Ottorino Respighi: Belfagor, Overture for Orchestra

Philip Glass: Concerto No. 2 for Violin amd Orchestra
"The American Four Seasons"

Ludwig van Beethoven: Symphony No. 6 in F major, op. 68
"Pastorale"

Tim Fain, violin
Christoph König. conductor
Pittsburgh Symphony Orchestra

Pittsburgh, Heinz Hall, January 16, 2016

Friday, January 15, 2016

Erich Kästner: Der Herr aus Glas



Erich Kästner (1899-1974) gehört neben Kurt Tucholsky und (jedenfalls, soweit es Drehbücher betrifft) Edgar Reitz zu den Autoren, ohne die ich wahrscheinlich nicht zum Stift bzw. zur Tastatur gefunden hätte.

Um so schöner, wenn es von einem dieser Herren neues Futter gibt. Schon 2013 hatte der Zürcher Atrium-Verlag (der seinerzeit im Prinzip nur gegründet wurde, damit Kästner während der Zeit seines Schreibverbotes publizieren konnte) die ungekürzte Fassung von Fabian veröffentlicht. Die Geschichte war 1931 zum Teil sinnentstellend gekürzt und entschärft erschienen und das Originalmanuskript galt als verschollen. Es ist eine Kopie gefunden worden, und nun liegt Kästners Roman in einer von Sven Hanuschek kommentierten Fassung unter ihrem ursprünglich vorgesehenen Titel Der Gang vor die Hunde vor. Einige der Kürzungen gehen von mir aus in Ordnung, aber einige wichtige Handlungsdetails werden erst jetzt, da die bislang fehlenden Teile wieder da sind, klar. Wer sich für die Situation und Lebensgefühl in der Endzeit der Weimarer Republik, kurz bevor die Nazis übernahmen, interessiert, wird hier in jedem Fall mehr erfahren als aus manchem Geschichtsbuch.

Und jetzt, wiederum von Sven Hanuschek herausgegeben und kommentiert, liegt Der Herr aus Glas vor; eine chronologisch angelegte Sammlung von 42 Erzählungen, die Kästner zwischen 1923 und 1955 für verschiedene Tageszeitungen und Illustrierte schrieb, zum Teil unter erst kürzlich entschlüsselten Pseudonymen (etwa „Jarosmin“ oder „Emil Brüll“). Einige der Geschichten waren bereits in der neunbändigen Hanser-Werkausgabe von 1998 oder auch in dem Doppelband Gemischte Gefühle von 1989 (noch in der DDR erschienen) enthalten, aber die meisten erscheinen hier erstmals in Buchform.

Vielen dieser Stories merkt man an, dass Kästner sie als Skizzen für später ausgearbeitete Langwerke oder als eine Art Schreiblabor angesehen hat, in dem er Ideen durchspielt und auf ihre Tauglichkeit testet. So findet man etwa unter der Überschrift „Inferno im Hotel“ (1927 im „Berliner Tageblatt“ erschienen) eine noch völlig unkomische Skizze, aus deren Motiven 1934 die (immer noch wunderschöne) Romankomödie Drei Männer im Schnee entstand. Und wenn ein „Sergeant Aurich“ auftaucht, dann muss man Kästnerkennern nicht erzählen, in welchem späteren Gedicht die Story ihre Endform fand („Sergeant Waurich“). Andere Kurzgeschichten sind blanker Nonsens, tragikomisch oder von einer surrealen Realitätsverliebtheit, die mich nicht selten an Kurzgeschichten von Franz Hohler erinnert. Die für Kästner typische Melancholie und (manchmal etwas arge) Sentimentalität steht über allen Geschichten, wird aber in aller Regel durch den ebenso typischen kästnerschen Humor aufgefangen. Dazwischen stehen auch Geschichten, die eher Tagebuchnotizen sind, etwa „Mutter bringt die Wäsche“ (1947 in der „Neuen Zeitung“ erschienen), die die vollkommene Fassungs- und emotionale Hilflosigkeit von Kästners Mutter schildert, als diese Kästners ausgebombtes Haus in Berlin nicht mehr betreten kann. Vor solchen Texten steht man mit Schluckbeschwerden. Und mindestens so interessant ist, wie Kästner diese (wahre) Episode in eine andere (erfundene) Kurzgeschichte („Berliner Hetärengespräch“) transformiert, die dann letztlich wohl eine Szene für die Münchener Kabarettbühne „Kleine Freiheit“ wurde. Und es gibt sehr selbstreflektive Texte, die als „Briefe an mich selbst“ firmieren und in denen Kästner seine erzählerische Eleganz für kurze Zeit aufgibt. Die lassen ahnen, wie er bei aller Hektik und Betriebsamkeit, die ihn wohl ständig umgab, tatsächlich getickt hat — ein Effekt, den ich sonst nur aus dem Blauen Buch kenne.

Nicht alle der hier vorgelegten Geschichten stammen aus der ganz obersten Schublade. Das macht aber nichts, denn interessant sind sie doch alle. Möglicherweise werden es auch nicht die letzten sein, denn noch immer sind nicht alle Kästnerschen Pseudonyme bekannt oder mit Sicherheit entschlüsselt, und es dürfte weitere Werke Kästners geben, die noch der Entdeckung harren. Ich freu mich drauf.


Erich Kästner:
Der Herr aus Glas
Atrium-Verlag, Zürich 2015
ISBN 978-3-85535-411-5



(Diese Besprechung erschien zuerst bei manafonistas.de)